Das bin ich ...

Sterben gehört in Pflege- und Altersheimen zum Alltag. Oft werden die Patienten und Bewohner, bevor sie die Welt verlassen, so gut wie nie von Angehörigen besucht.
Sehnsüchtig sitzen die Alten nur noch da und warten.
Warten auf den Tod – oder auf eine Nachricht von ihren Familien.
Sie sind einsam, verbittert und traurig.
Meist geben sie deshalb jeglichen Lebenswillen schnell auf.
Genauso erschien es den Pflegern in der Pflege auch bei dieser alten Dame.

Sie glaubten, sie sei senil und sehne sich nach dem Tod.
Hin und wieder murmelte die Seniorin etwas vor sich hin, das böse und giftig klang.
Geistig schien sie schon lange nicht mehr auf der Höhe zu sein.
Nachdem die alte Frau gestorben war, räumten die Pfleger ihre Sachen zusammen.
Dabei entdeckten sie einen Zettel. In krakeliger Schrift war zu lesen:

„Liebe Pfleger und Schwestern in der Pflege,wen glaubt ihr zu erkennen, wenn ihr mir in die Augen blickt?
Eine merkwürdige, verbitterte, alte Frau, die sehnsüchtig ins Leere starrt.
Eine Frau, die nicht reagieren will, obwohl man sie andauernd darum bittet.
Eine Frau, die ihr Essen einfach wieder ausspuckt. Ihr denkt, ich bekäme nichts mehr mit von der Welt.
Ständig verliere ich Schuhe oder Kleidungsstücke.
Widerspenstig lasse ich mich von euch baden und füttern.
Immer darauf hoffend, dass der Tag schnell vorübergeht.
Ist es das, was ihr über mich denkt? Ja? Dann seht diesmal genau hin! Denn DAS bin ich nicht.
Auch, wenn ich mich ruhig verhalte – weil ihr es mir angeordnet habt.

DAS bin ich:

Ein Mädchen. Gerade einmal zehn Jahre alt, mit Mutter und Vater.
Mit Geschwistern und einer liebenden Familie. Ich bin sechzehn und besitze Flügel. Träume von der Liebe!
Ich bin eine 20-jährige, wunderschöne Braut und mein Herz tanzt vor Freude.
Denn es gibt ein Versprechen für die Ewigkeit. Ich bin Mutter. Ich bin 30 und meine Kinder brauchen mich.
Ich sitze, im Kreise meiner Familie und ich trauere. Mein geliebter Mann ist gestorben.
Die Zukunft bringt Ungewissheit und Angst.
Meine Kinder sind fort, mein Mann ist nun auch fort.Ich erlebe eine Rückblende. Denke an all die vergangenen Jahre.
Glückliche Jahre. Ich bin alt.
Auch mit mir hat die Natur kein Erbarmen.
Das Alter ist grausam und isoliert mich.
Kraft, Schönheit, Lebensfreude – alles ist dahin. Mein Herz ist erkaltet.
Doch das Mädchen in mir lebt noch.
Und es liebt noch. Ich reise zurück und erlebe alles noch einmal.
Viel zu schnell ist mein Leben vorüber gegangen.
Ich akzeptiere, dass nichts für die Ewigkeit festzuhalten ist.
Deshalb: öffnet eure Augen! Seht ganz genau hin! 
Denn DAS bin ich!
Ich bin glücklich. Meine Kinder sind erwachsen und ich bin 40 Jahre alt.
Doch ich bin glücklich, denn ich besitze eine liebende Familie. Als ich 50 Jahre alt bin, sind meine Kinder längst ausgezogen. Doch mein Mann ist noch hier.
Ich bin glücklich. Ich bin eine 60-jährige Oma und ich halte meine Enkelkinder im Arm."

Jeder Mensch hat eine Geschichte.

Er geht durch tiefe Täler und erklimmt Berge.

Und jeder Mensch verdient, dass man ihm Aufmerksamkeit, Zeit und Liebe schenkt.

Dass man ihm zuhört! Denn wie bereits erwähnt: jeder Mensch hat eine Geschichte!

Und jede Geschichte will erzählt werden.

Quelle Internet • www.poesiedeslebens.de • Urheber Text © Viola Herrmann