Realität

Heute erreichte mich eine Nachricht von Anna aus Hamburg.

Sie schildert den Alltag in einem Pflegeheim wieder sehr eindrücklich und zeigt, wie wenig es alle interessiert, was in der Pflege tagtäglich passiert und wie die Menschenwürde mit Füße getreten wird. Auf dem Rücken der Angestellten, Bewohner/Angehörigen – und das nur für Gewinne und Profite:

„Lieber Herr Heyde,

mein Name ist Anna und ich bin Krankenpflegerin seit 30 Jahren, arbeite aber aktuell in der Altenpflege. Es ist eine Einrichtung mit 135 Betten, davon sind 35 Betten im Demenzbereich. Seit 5 Jahren war ich in dieser Einrichtung als Fachkraft tätig.

Bei uns auf dem Wohnbereich war die Situation wie überall, der Notstand frisst uns alle auf und saugt uns die Energie aus, auf Kosten der Rendite, Profite und Gewinne für die Einrichtungen. Ich behaupte es einfach mal, da ich die aktuellen „Gewinnzahlen“ meines privaten Trägers fürs vergangene Jahr kannte und er sich unter den „Top 5“ der Pflegeheime befindet.

Leider ist es auch so, dass wir kaum noch Kolleginnen fanden, und selbst wenn mal jemand da war, sie eingearbeitet wurde oder hospitiert hatte, kurz darauf waren sie wieder weg. Die Arbeitsbedingungen sind einfach zu schlecht, der Personalschlüssel passt hinten und vorne nicht und der Dienstplan ist bereits nach einer Woche ein Kunstwerk, bei dem jeder Künstler aufgrund der vielen Farben und Änderungen neidisch werden würde.

Was aber immer öfter passierte, ist dass Dienste zum Teil alleine gemacht werden mussten. Dies hatte mit Kündigungen, Krankmeldungen oder auch „einfach nicht kommen, obwohl man Dienst hat“ zu tun. Ich hatte das Pech öfters solch einen Dienst zu haben.

Man kam zum Dienst und bekommt dann von der Nachtwache gesagt, dass sich jemand krank gemeldet hat oder einfach nicht zum Dienst erschienen ist. Und schon ist man alleine. Auf einem Wohnbereich mit 30 Bewohnern. Die Abläufe kommen sofort ins stocken. Man richtet schnell die Tabletten und Tropfen, hört mit einem Ohr der Übergabe des Nachtdienstes zu, druckt sich seine Bewohnerliste mit wichtigen Infos aus und dann geht es los. Im Flur sind schon zig Bewohnerrufe auf „rot“, das Telefon klingelt die ganze Zeit dadurch. Die Ungeduld der Bewohner nimmt mit jeder Minute zu, denn schließlich will jede/r der/die Erste am Frühstückstisch sein. Warum auch immer. Und damit steigt dann auch der persönliche Druck in einem selbst.
So hetzt man dann von Zimmer zu Zimmer, die „Waschstraße“ wird immer länger, die Dienstkleidung immer feuchter und die Zeit verfliegt. Mitten in der Pflege ist es dann Zeit für die Tablettengabe, das Anhängen von Nahrungen an den PEG, Gabe von BTM, der BZ wird gemessen und Insulin gegeben. Wieder weiter in die Pflege, denn am Ende kommen die schweren Fälle. Leider ist unsere Aufstehhilfe für zwei Wohnbereiche seit ca. einer Woche defekt, so darf ich auch noch diese armen Menschen alleine mit meiner Muskelkraft in Roll- und Mobilisationsstühle bewegen. Eine Tortur für beide Seiten. Auf Hilfe von einem anderen Wohnbereich brauche ich meist gar nicht zu hoffen, denn dort ist die Situation ähnlich. Zwischendurch steht dann noch ein Hausarzt in der Tür für eine Visite, der Transportdienst holt jemanden/oder bringt jemanden ab für/von einen Termin. Dann ist es Mittag, wieder Tabletten und Tropfen richten etc., alles im Eiltempo und ab zur Tablettengabe. Ach ja, nach dem Mittagessen ist meine Stationshilfe weg und ich darf danach noch den Speiseraum aufräumen, Geschirr wegräumen, Essenswagen in die Küche fahren. Warum es so ist? Man wollte einfach Geld sparen. So arbeitet sie nur für ein paar Stunden und auch nur von Dienstag bis Donnerstag. Dann geht es an die Toilettengänge, vorbereiten für die Mittagsruhe, die Beschwerden der Angehörigen anhören und natürlich das Wichtigste des ganzen Dienstes – die Dokumentation. Dort sollte ich immer schön abhaken, was ich alles (nicht) geschafft habe. Natürlich habe ich dann alle Prophylaxen geschafft, ordnungsgemäß mobilisiert, angereicht etc.

Denn wenn man es nicht abzeichnet, bekam man Druck von unserer PDL. Ich habe es mehrmals nicht getan und nur das abgezeichnet, was ich wirklich geschafft hatte. Ein Fehler der eine Abmahnung zur Folge hatte und die Drohung der Kündigung. Natürlich habe ich Überlastungsanzeigen geschrieben, die Heimaufsicht/MDK anonym informiert, Angehörige gebeten ihre Missstände direkt an die PDL/EL zu richten.

Alles hat nichts gebracht. Die Begehung der Heimaufsicht brachte keine Notstände zu Tage, alles war wie immer dann abgedeckt und personell aufgefüllt, die Überprüfung durch den MDK brachte uns eine Note von 1,3 ein.

Jetzt habe ich für mich die Notbremse gezogen und gekündigt. Ich kann es noch immer nicht richtig fassen, aber ich fühle mich seit 5 Jahren frei und ohne Druck.

Danke, dass Sie für die Pflegeberufe kämpfen Herr Heyde.

Ich bitte Sie inständig, geben Sie nicht auf. Gerade solche seltenen Menschen mit solch einer Einstellung wie Sie einer sind, gibt es viel zu wenige.

Wir benötigen jeden Einzelnen um dieses Gesundheitssystem zu verändern und Verbesserungen zu erreichen.

Liebe Grüße aus Hamburg
Anna“

Quelle • Facebook • Pflegekräfte in Not • Urheber Text © Stefan Heyde